CareTech und das Trägheitsgesetz des Gesundheitswesensmarkts

Pflege-IT

TEXT: HEIKO MANIA

EIN NEUER STAR IST GEBOREN

War die professionelle Pflege in den letzten Jahren eher einen Nischenthema für Innovationen, führt der zunehmende Pflegefachkräftemangel mit allen negativen Auswirkungen zu einer Blüte von neuen Ideen und Startups in diesem Bereich. Ein zunehmend fokussiertes Thema ist dabei die Reduktion der Dokumentationsaufwände und die Optimierung der pflegerischen Prozesse. Liegt die Digitalisierung heute in der Pflege noch bei ca. 27 %, könnte sie sich bedingt durch die von der Politik veränderten Rahmenbedingungen in der Finanzierung und den Stellenschlüsseln, in den nächsten 2 Jahre gar verdoppeln. Doch die Eintrittshürden sind hoch.

Pflegesoftware ist bereits seit der Jahrtausendwende auf dem Gesundheits- markt verfügbar und konnte sich dennoch, insbesondere in den Kliniken, kaum durchsetzen. Dies liegt zum einem dar- an, dass die Hersteller, insbesondere die KIS-Anbieter sich wenig an den Bedarf und die Prozesse der professionellen Pflege orientiert haben oder diese wie- derum zu stark mit pflegetheoretischen Inhalten »aufgebläht« haben. Auf der anderen Seite waren die Kliniken nicht bereit das verfügbare Geld in die Pflege zu investieren, da die Pflege doch be- reits mit der DRG eines Patienten ab- gegolten ist und primär dadurch keine Erlössteigerung zu erwarten war.

Das neue Pflegepersonalstärkungsgesetz und das Pflegepersonaluntergren- zen-Gesetz machen nun auch diesen Markt interessant.

MARKTMECHANISMEN

Wer in den Pflegemarkt mit neuen Produkten einsteigen möchte, sollte sich mit seinen speziellen und stark regulierten Mechanismen auskennen. Denn in der Realität gibt es nicht »die Pflege». Diese Berufsgruppe ist geprägt von einer sektoralen Splitterung in am- bulante, stationäre und die Gesundheits- und Krankenpflege in den klinischen Einrichtungen. Leider sind genau diese Sektorengrenzen von Informationsverlust und unterbrochener Pflegekontinuität geprägt. Jeder Sektor hat seine eigenen gesetzlichen Regelungen in den Sozialgesetzbüchern und meist auch eigenen Abrechnungsmodalitäten. Zudem bewegt man sich mit Produkten für die professionelle Pflege schnell

im Bereich von Medizinprodukten und deren regulatorischen Anforderungen. Genau dies erschwert es, Geschäftsmodelle aus der »freien Wirtschaft» auf diesen Bereich zu übertragen.

Erschwerend kommt dazu, dass die Pflegefachkräfte solchen neuen Innovationen und Technologien oft kritisch gegenüberstehen. Die Begründung dafür liegt unter anderem in dem Selbstverständ- nis des eigenen Berufsbildes. Denn Pflege ist im Kern eine ganzheitliche Bezie- hungsarbeit mit und an dem Patienten. Daher hat gerade eine patientennahe Tätigkeit die höchste Priorität bei den Fachkräften. Die IT hatte in den letzten Jahren leider einen umgekehrten Effekt auf die pflegerische Arbeit. Statt am Patienten, mussten Dokumentations- tätigkeiten an patientenfernen Bürocomputern durchgeführt werden. Nicht selten waren diese Dokumentationen sogar fachfremd, für andere Berufs- gruppen, zu erbringen, wie z. B. Aufnahmeverträge o. ä. Diese Erfahrungen prägen noch heute die Bewertungen neuer CareTech-Angebote durch die pflegerischen Anwender. Die Pflegefachkräfte möchten für die eigene Arbeit und für ihre Patienten einen klaren Nutzen und eine echte Entlastung durch diese modernen Angebote erfahren. Daher werden im besten Falle die zukünftigen Anwender bereits bei der Auswahl der Systeme einbezogen und die fachlichen Anforderungen als harte Kriterien definiert.

Aber auch fehlende technologische Austauschstandards und die mono- lithische Vormacht der Krankenhausinformationssysteme bremsen neue technologische Innovationen deutlich. Möchte man beispielsweise mit einer neuen Software die klinischen Prozesse unterstützen, wird zurecht direkt die Frage nach einer Anbindung an das patientenführende Informationssystem (meist das KIS) der Gesundheitseinrichtung gestellt. Natürlich möchte kein Anwender die Stammdaten eines Patienten mehrfach in unterschiedliche Systeme eingeben. Aber gerade hier spielen die großen Systemhersteller ihre monolithische Macht aus. Nur wenn diese Anbieter eine Anbindung an ihre Systeme erlauben, kann der

Kunde, meist sehr kostenintensiv, solche Schnittstellen erstellen lassen. Dies kosten neben dem Geld meist auch viel Zeit. Die bisher bestehenden Standards wie HL7 oder xDT sind dabei alles andere als als plug&play zu bewerten.

AMERICA FIRST?

Hier zeichnet sich aber eine neue, innovative Lösung ab – der Standard FHIR (Fast Healthcare Interoperable Resources) aus den USA. In den Staaten unterstützen bereits viele Informationssysteme und auch Klinikketten diesen höchst interoperablen Standard und selbst Größen wie Apple und Google haben diesen bereits in ihren mobilen Patientenakten integriert. Auch in Deutschland haben einige Hersteller von Krankenhausinformationssystemen angekündigt künftig FHIR zu unter- stützen und sich damit quasi plug&play für neue technologische Systeme zu machen. Dadurch können Kliniken und Heime bald deutlich einfacher einzelne Komponenten, wie beispielsweise die Pflegedokumentation, auch von ver- schiedenen Herstellern einbinden und nutzen. Aber auch moderne Pflegehilfsmittel und Pflegesensoren können via FHIR einfach in die vorhandene IT-Landschaft eingebunden und pflegeprozess- nah genutzt werden. Diese Entwicklung erlaubt es neuen Anbietern einfacher und kostengünstiger an die so wichtigen Daten aus den Primärsystemen zu kommen und gleichzeitig u. a. den Pflegefachkräften innovative Mehrwerte zu bieten.

GEGEN DIE TRÄGHEITSGESETZE

Zuletzt sollte jedoch das ungeschrie- bene Trägheitsgesetz des Gesundheits- markts berücksichtigt werden. Ent- scheidungen für Beschaffungen, gerade in der Komplexität von moderner IT-Systemen, benötigen Monate und nicht sel- ten auch Jahre. Neben den notwendigen finanziellen Mitteln, müssen derartige Projekte mit Bau- oder Medizintechnikprojekten der Gesundheitseinrichtungen konkurrieren. Daher wurden gerade für die Pflege relevante Projekte in der Vergangenheit sehr häufig vor sich her- geschoben oder schlicht zurückgestellt. Zudem bedeuten solche Projekte immer auch einen Bedarf an technischer Infrastruktur und einen nicht unerheblichen Eingriff in die organisatorischen und fachlichen Abläufe. Unternehmen, gerade auch Startups benötigen daher neben soliden Branchenkenntnissen auch einen langen Atem. Dabei sollten diese langen Entscheidungszeiten bei keineswegs als Desinteresse gewertet werden. Die Entscheidungswege sind meist einfach nur lang.

Was sollten nun Unternehmen, die erfolgreich in den Pflegemarkt wollen, beachten?

› Der Pflegemarkt wird durch die verschiedenen Sektoren, deren unter- schiedlichen Gesetzgebungen und Vergütungssysteme gesplittet. Ge- schäftsmodelle passen meist immer nur auf einen spezifischen Sektor
und sind nicht einfach zu übertragen.

› Auch der Pflegemarkt wird durch die Medical Device Regulation reguliert. Entsprechend müssen neue Produkte dahin gehend geprüft werden, ob es sich gegebenenfalls um ein Medizinprodukt im Sinne dieser Richtlinie handelt. Zudem wirken in diesem Bereich eine Vielzahl von zu beachtenden Standards, Leitlinien und Normen.

› Noch bestimmen die großen Informa- tionssysteme (KIS, HIS) welche neuen Technologien, zu welchen Preis und in welcher Tiefe angebunden werden können. Durch den sogenannten »Vendor Lockin-Effekt«, ist es heute für viele Einrichtungen sehr schwierig, etwaige Komponenten oder ganze Anwendungssysteme ohne relevanten Datenverlust und massiven Aufwand zu tauschen. Neue Interoperabilitäts- standards, wie FHIR, werden dieses Problem in den nächsten Jahren für die Betreiber lösen. Tendenziell wird sich auch im Gesundheitsbereich eine App-Ökonomie mittels mobiler Geräte entwickeln.

› Neue Technologien für die Pflege müssen in den Pflegeprozess passen und einen deutlichen Nutzen aufweisen. Daher ist eine Teilhabe der Pflegefachkräfte an der Entwicklung, Beschaffung und Einführung neuer Produkte sehr zu empfehlen. Dieses schafft Augenhöhe, Wertschätzung und Akzeptanz.

› Der Weg zur Realisierung von Projek- ten in der Pflege führt häufig über verschiedene Managementebenen. Den Geschäftsführern muss der öko- nomische Nutzen, den IT-Verantwortlichen der technologische Nutzen
und den Pflegemanagern der pflegefachliche Nutzen aufgezeigt werden. Daher benötigen diese Entscheidungsprozesse in der Regel entsprechende Zeit. Hier wird gerade beim Einstieg in den Markt ein langer Atem notwendig werden.

› Kooperationen schaffen Mehrwert.
So gut Einzellösung auch sind, um so besser werden diese in der Koope- ration und Verbindung mit anderen CareTech-Lösungen. So lassen sich er- fasste Daten und Informationen nicht nur gemeinsam nutzen, sondern auch neues Wissen gerieren und andere Anwendergruppen, wie Patienten und Angehörige einbeziehen.

› Die IT-Kenntnisse in der professionel- len Pflege sind sehr heterogen. Denn IT-Schulungen gehören bis heute nicht zu den festgelegten Inhalten der Pflege-Ausbildung. Dies muss auch in CareTech-Projekten beachtet und die Anwender dort abgeholt werden, wo diese mit ihrem IT-Wissen stehen.

FORTSCHRITT GEWINNT

Mit dem Wissen um diese Besonderhei- ten, sollten sich Unternehmen, die neue Innovationen in die professionelle Pflege bringen wollen, vorbereiten. Der Pflegemarkt benötigt innovative Technologien um die Auswirkungen des zunehmenden Fachkräftemangels abzufedern und die Pflegefachkräfte von Routineaufgaben zu entlasten. ◆

Heiko Mania

M.Sc., MBA | Geschäftsführer NursIT Institute GmbH

Schreibe einen Kommentar