Wie stemmt Deutschland den »Silbernen Tsunami«?

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Zukünftige Pflegekosten und Leistungskraft in der zweitältesten Bevölkerung der Welt

Demographen sprechen vom „Silbernen Tsunami“, denn Begriffe wie „demographischer Wandel“ ver­harmlosen, dass – statistisch gesehen – in wenigen Jahren auf jeden Erwerbstätigen in Deutschland ein Rentner kommt. In den nächsten Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente; damit verlas­sen mehr Menschen die deutsche Wirtschaft als je zuvor. Die Konsequenzen stellen die Sozialversicher­ungs­-Systeme auf den Prüfstand, nicht nur in Euro­pa, sondern weltweit. Japans Staatsverschuldung z. B. ist auf 240 % vom BSP gestiegen. Japanische Ökonomen sprechen inzwischen offen vom nicht ab­wendbaren Kollaps der Sozialversicherungssysteme.

Deutschland muss sich auf die eigene Innovations­ kraft besinnen – immerhin ist Deutschland Erfinder der universellen Sozialversicherung. Doch dieses Modell fußt auf einer Situation, die nicht mehr exis­tiert: damals explodierte die Bevölkerung, und eine Unmenge junger Menschen drängte in das Arbeits­ leben.

Das „CIA WORLD FACTBOOK“ errechnet das Ver­hältnis von Erwerbstätigen zu finanziell Abhängigen und zieht daraus Schlüsse für die politische und soziale Stabilität – und für die wirtschaftliche Ent­wicklung. Heute sind es noch 3 Erwerbstätige – in wenigen Jahren kommt auf jeden Erwerbstätigen in Deutschland ein Rentner.

Die Wirtschaft hat die Risiken längst erfasst. Das Wirtschaftszentrum Berlin befragte Entscheider in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft: 60 % nannten an erster Stelle den demografischen Wandel, und je 28 % gesellschaftlichen Zusammenhalt, Verteilungs­ gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung.

Standard & Poor zeigt im „Global Aging Report 2013“ zwei wichtige Stellhebel: die Gesetzgebung zu Pension und Gesundheit – den höchsten altersbezo­ genen Haushaltsposten.

Was kann Deutschland von Japan lernen? Japan hat die älteste Bevölkerung der Welt, aber auch die gesündeste. Die Weltgesundheits­-Organisation WHO errechnet die Anzahl beschwerdefreier Lebensjahre. Japan liegt weltweit an der Spitze. Das Geheimnis: systematische Standard­-Prävention.

Für Deutschland hingegen errechnet die WHO bereits für 2030 den Kollaps des deutschen Gesund­heitssystems unter den Folgekosten chronischer Krankheiten. Das Robert Koch Institut zeigt im Gesundheitsmonitor DEGS für Deutschland seit Jahren: 67% der Bevölkerung haben Übergewicht. 23 % sind klinisch fettleibig. Die Milliarden teuren Kosten für Epidemien wie Diabetes, Bluthochdruck, Arteriosklerose, Herzkreislauf­ und chronische Krankheiten steigen weiter an. Diese Statistik hat teure Konsequenzen: 80% aller Krankheiten und Krankheitskosten gehen auf das Konto von Folge­krankheiten wie Herzkrankheiten, Diabetes, und Erkrankungen des Muskel­-Skelettsystems. Die Ursachen sind einfach: ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung. Abhilfe ist ebenso einfach: mehr bewegen – gesünder essen.

Die WHO empfiehlt leicht umsetzbare präventive Maßnahmen:

  •  Förderung gesunder Ernährung und Bewegung
  • Verbot und Ersatz pflanzlich gehärteter Transfette
  • Werbebeschränkung für Lebensmittel mit hohem Salz-, Fett- und Zuckergehalt
  • Gestaltung eines gesunden Ernährungsumfelds in Schulen und am Arbeitsplatz
  • Ernährungsberatung
  • Bewegung, Bewegung, Bewegung

JAPAN SETZT AUF STANDARD-PRÄVENTION

Check­Ups sind im Alter von 40 bis 75 Jahren Pflicht. Übergewichtige erhalten medizinische Behandlung. Japan ist weltweit Spitze – mit der geringsten Fett­leibigkeit der Welt (3 %) und der geringsten Rate chronischer Krankheiten. Japan macht seiner Bevöl­kerung klar: Wir können neben den Renten nicht auch noch hohe Ausgaben für Gesundheit finanzieren. Doch die deutsche Bevölkerung nimmt Präventions­angebote nicht an. Das Robert Koch Institut zeigt im Gesundheitsmonitor: 84 % der GKV Versicherten nutzen Präventionsangebote nicht.
Das Resultat? Einfach zu verhindernde chronische Krankheiten und Pflegefällte aufgrund zu wenig Bewegung und ungesunder Ernährung. Dazu kommt seit 20 Jahren ein neues Phänomen: Depression und mentale Erschöpfung bis zum Burn­-Out. Die WHO sieht mentale und emotionale Probleme an zweiter Stelle – direkt nach Herzkreislaufkrankheiten weltweit.

DIE MATHEMATIK IST NICHT KOMPLIZIERT

Jeder einzelne kann ausrechnen, was es heißt, wenn in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge Pension beziehen statt einzuzahlen.
Jeder kann ausrechnen, was das an Belastungen für die Sozialversicherung ergibt. Jeder kann ausrech­nen, dass eine starke Zunahme pflegebedürftiger Menschen überhaupt nicht versorgt werden kann. Besonders der Anstieg der Demenz bereitet Sorgen. Nicht umsonst hielten die G8­-Nationen bereits
2013 einen Demenzgipfel ab. Japan schützt sich mit einer Bevölkerungsinitiative – in jeder Gemeinde werden Freiwillige ausgebildet für die Betreuung von Dementen. Jeder einzelne kann für sich die Sze­narien ausrechnen und sich klar werden: Gesund­heit muss jeder einzelne bewusst gestalten. Wir sind für unser Wohl, für unsere Gesundheit selbst ver­antwortlich. Wir sind dafür verantwortlich, was wir essen, wie wir uns bewegen, und wie wir emotional mit uns und unseren Mitmenschen umgehen.

Nichts ist so robust wie unser Körper, nichts auf diesem Planeten ist so mächtig wie unser Gehirn. Wohlstand macht träge. Jetzt ist es Zeit, hellwach zu werden. Jetzt ist es an der Zeit, die Kräfte, die in uns schlummern, wieder zu wecken und zu vollem Ein­satz zu bringen.

Krisen mobilisieren und bringen das Beste in uns hervor: denken wir nur an die Jahrhundertflut. Aus den Pegelständen in Prag konnten wir errechnen, was das für die Städte in Deutschland flussabwärts bedeutete. Information über Pegelstände galt nicht als Panikmache, sondern als wertvoller Hinweis. Niemand konnte die Flut aufhalten. Aber wir konn­ten berechnen, wann die Gemeinden flussabwärts mit welchen Pegelständen konfrontiert würden. Jeder konnte für sich ausrechnen, was das für sein Haus und seine Familie bedeutete und Vorbereitun­gen treffen.

Jeder hat zuerst sein eigenes Haus, die eigene Familie in Sicherheit gebracht. Danach haben unzählige Freiwillige geholfen, Städte und Gemeinden vor der Flut zu sichern – Sandsäcke zu schleppen, zu organisieren, zu koordinieren. Nichts bringt deut­sche Muster­-Tugenden – Organisieren, Ausrechnen, Methodik, Disziplin, Konsensfindung, Lösungsorien­tierung – so zum Glänzen wie eine Krise.
Jetzt haben wir eine, die es wert ist. ◆

TEXT: DR. JOHANNES ZWICK UND DR. BARBARA LANG

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