PFLEGE 2.0
Digitalisierung – die strategische Chance für die Pflege
DIE DIGITALISIERUNG WIRD ARBEITSPLÄTZE KOSTEN
Die Digitalisierung ist ein Megatrend, der nicht erst in einem Jahrzehnt beginnt, sondern bereits heute die meisten Lebensbereiche beeinflusst. Nehmen wir ein Beispiel: Schon heute kennen wir verschiedene Fahrerassistenzsysteme (z. B. Navigationsgeräte, Spurhalteassistent), die mit Hilfe digitaler Informationen, Autofahrern ihre Arbeit erleichtern bzw. das Fahren sicherer machen. In Kalifornien fahren bereits die ersten Autos, die komplett autonom – also ohne Fahrer – ihren Weg zum Ziel finden. Für die kommenden zehn Jahre ist es sehr wahrscheinlich, dass zumindest in allen westlichen Ländern, das autonome Fahren Einzug halten wird. Via App wird man sich (nur) dann ein Fahrzeug rufen, wenn man es tatsächlich benötigt, z. B. für den Familieneinkauf. Das Auto erledigt die Fahrt, währenddessen man selbst bequem auf dem Rücksitz sitzend, Zeit für andere Dinge gewinnt (z. B. WhatsApp-Nachrichten bearbeiten). Zusätzlich wird die Fahrt sicherer, weil der Faktor „Mensch“ – z. B. Ablenkung durch WhatsApp bei normaler Fahrt – im Wesentlichen ausgeschaltet ist.
Neben sinkenden Unfallzahlen wird sich der Nutzungsgrad eines Autos deutlich erhöhen. Heute geht man davon aus, dass ein Wagen maximal 20% seiner Lebenszeit tatsächlich verwendet wird, die anderen 80% steht er auf Parkplätzen oder in der Garage. Das autonome Fahren führt dazu, dass der Einzelne ein Auto (inkl. Garage und/ oder Parkplatz) nicht mehr besitzen muss, da er dieses jederzeit sehr einfach rufen kann. Damit erhöht sich auch der Auslastungsgrad jedes Autos – man geht von 50–60% Nutzungsgrad pro Wagen aus. Was sich zunächst relativ unspektakulär anhört, hat für Deutschland tiefgreifende Auswirkungen: Bei einem zwei- bis dreimal so hohem Nutzungsgrad werden nur noch die Hälfte bzw. ein Drittel der Autos benötigt. Dies wird die Automobilindustrie – Hersteller, Zulieferer, Autohäuser – in Deutschland hart treffen und Arbeitsplätze kosten. Es werden keine Taxi- und LKW-Fahrer mehr benötigt, Haftpflichtversicherer werden deutlich weniger Umsätze mit ihren Policen machen, usw. Eine für den Einzelnen also komplett sinnvolle Innovation, wird für die Gesellschaft eine immense Herausforderung darstellen.
Anders als die Automobilindustrie kämpft die Pflege seit einiger Zeit damit, ausreichend Nachwuchs für ihre Berufsgruppe zu finden. Gründe hierfür liegen u.a. in der geringeren Vergütung und den weniger attraktiven Arbeitsbedingungen (z. B. Nacht- und Wochenendarbeit). Personalstellen in Krankenhäusern, Rehakliniken, Heimen und ambulanten Pflegediensten bleiben unbesetzt. Da die Patientenzahlen und die Pflegebedürftigkeit der Patienten steigen, haben wir hier bereits heute eine Herausforderung von gesellschaftlicher Relevanz. Auch wenn es naheliegend scheint, die Lösung für dieses Problem wird wahrscheinlich nicht die Umschulung der in der Automobil- und Transportindustrie zukünftig freigesetzten Arbeitskräfte darstellen.
DIE DIGITALISIERUNG DER PFLEGE IST KEIN TECHNISCHES PROBLEM
Allerdings kann die Digitalisierung auf anderem Wege einen Beitrag zur Bewältigung der strategi- schen Herausforderungen im Pflegedienst leisten. Digitalisierte Abläufe führen in der Regel dazu, dass bisher erforderliche Tätigkeiten entweder komplett eingespart oder zumindest deutlich weniger aufwändig werden.
Hierzu einige Beispiele aus dem Pflegealltag: Bei der Aufnahme eines neuen Patienten fragen Pflegekräfte heute eine Vielzahl von Informationen ab, die sie anschließend auf Anamnesebögen papiergestützt dokumentieren. Zukünftig wird jeder Patient allerdings über eine persönliche digitale Patientenakte verfügen, in der Informationen über sämtliche Arztbesuche, Erkrankungen, Untersuchungen und die gesamte Medikamentenhistorie jederzeit verfügbar sind. Die pflegerische Anamnese wird dann nur noch darin bestehen, die bereits eingelesenen Anamnesedaten zu sichten und in einem kurzen Patientengespräch wenn nötig zu ergänzen.
Bei den meisten Patienten werden zweimal täglich die Vitalzeichen (Blutdruck, Puls, Körpertemperatur) durch die Pflege kontrolliert und die entsprechenden Werte in die Akte eingetragen. Zukünftig werden Sensoren, z. B. im Smartphone des Patienten, mehrmals täglich die Vitalzeichen erheben und diese via App in die digitale Akte des Krankenhauses übermitteln. Der gesamte Prozess wird automatisiert, wodurch auch Fehlerquellen – wie z. B. die händische Übertragung der Werte in die Akte – vermieden werden. Nimmt man für den Prozess „Vitalzeichen kontrollieren“ insgesamt 5 Minuten an und wird der Prozess zweimal täglich pro Patient durchlaufen, dann werden durch die Digitalisierung dieses kleinen Prozesses bereits mehrere Vollkräfte für andere Tätigkeiten gewonnen.
Durch krankheitsspezifische Lernvideos gelingt es, Wissen in gleicher Qualität, beliebig wiederholbar, zeit- und ortsunabhängig zur Verfügung zu stellen.
Während der Zeit im Krankenhaus erhalten der Patient und seine Angehörigen krankheitsbildspezifische Schulungen (z. B. Setzen einer Thrombosespritze), Beratungen (z. B. Ernährungsberatung) und Verhaltensempfehlungen durch die Pflege. Bislang erfolgen diese Schulungen situations- und personenabhängig in unterschiedlicher Qualität, sie sind für den Patienten zudem nicht wiederholbar – das ver- mittelte Wissen ist „flüchtig“. Durch die Produktion krankheitsspezifischer Lernvideos gelingt es, Patienten und Angehörigen Wissen in gleicher Qualität, beliebig wiederholbar, zeit- und ortsunabhängig zur Verfügung zu stellen. Der Patient kann entweder über das krankenhauseigene Infotainmentsystem oder das eigene Smartphone auf die Lernvideos zugreifen. So können nicht nur mehr Patienten geschult, sondern die Mitarbeiter auch von einem wesentlichen Teil der Trainings entlastet werden. Lernvideos für Patienten unterstützen nicht nur den Behandlungserfolg, sondern beeinflussen damit auch die Wahrnehmung des Krankenhauses als patientenorientierten Dienstleister positiv. Gleichzeitig wird Arbeitszeit bei den Mitarbeitern eingespart.
Neben diesen drei gibt es schon heute hunderte weitere Ansatzpunkte für digitale Pflege: Ortungs- und Überwachungslösungen erleichtern die Versorgung von Patienten mit Weglauftendenzen, mit Hilfe des Handschuhs „T-Jay“ kann die Wahrscheinlichkeit epileptischer Anfälle vorausgesagt werden, die digitale Kommunikation unter den eingesetzten Geräten und Medizinprodukten wird die aktive pflegerische Dokumentation auf ein Minimum reduzieren, Pflege- und Serviceroboter können die examinierten Pflegekräfte bei der täglichen Arbeit entlasten. Um es noch einmal bewusst zu machen, alle diese technischen Lösungen sind bereits heute verfügbar! Die Digitalisierung der Pflege ist also kein technisches Problem.
DIE DIGITALISIERUNG DER PFLEGE IST DIE STRATEGISCHE CHANCE IN DEN NÄCHSTEN ZEHN JAHREN
Die Beispiele zeigen, dass die Digitalisierung das Problem der fehlenden Fachkräfte im Gesundheitswesen (zu großen Teilen) lösen und den examinierten Pflegekräften mehr Zeit am Patienten, bei einer geringeren Fehleranfälligkeit in den Abläufen, verschaffen kann. Da die Lösungen technisch bereits verfügbar sind, stellt sich die Frage, warum die Digitalisierung der Pflege bislang – wenn überhaupt – nur diskutiert wird und nicht schon längst Realität ist. Als Gründe werden hierfür häufig fehlende infrastrukturelle Voraussetzungen (z. B. unzureichende WLAN-Ausleuchtung in den Kliniken), mangelnde Investitionsmöglichkeiten und ungeklärte Datenschutzprobleme angeführt. Sind dies sicherlich Hürden, die im Zuge eines Digitalisierungsprojektes zu nehmen sind, so liegt der eigentliche Grund für die fehlenden Umsetzungsaktivitäten in diesem Bereich deutlich tiefer.
Wie andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen auch, zeichnet sich die Pflege durch eine hohe Innovativität in ihrem Kernaufgabenfeld und gleichzeitig durch ein ausgeprägtes Beharrungsvermögen gegen- über organisatorischen und technischen Neuerungen aus. Dies äußert sich beispielsweise darin, dass digitale Lösungen von Pflegekräften gerne und beinahe reflexartig als technische Spielereien diffamiert werden. Die Relevanz der Anwendungen für den pflegerischen Alltag wird in Frage gestellt, noch bevor irgendeine dieser Lösungen auch nur ausprobiert bzw. ernsthaft getestet wurde. Der geneigte Leser kann sich ja hinterfragen, ob dieser Reflex durch die oben aufgeführten Beispiele auch bei ihm ausgelöst wurde.
Pflegerische Führungskräfte und Mitarbeiter müssen den Blick auf die Digitalisierung komplett verändern und diese als Chance und nicht mehr als Risiko verstehen.
In der Regel fehlt der Pflege die Bereitschaft, sich ernsthaft mit den Möglichkeiten der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Stattdessen werden sehr ausführlich und immer wieder die Risiken digitaler Prozesse thematisiert. Dadurch findet aber aus der Berufsgruppe heraus keine aktive Suche nach Ideen statt, wie die Digitalisierung die Arbeit positiv verändern kann. Die oben aufgeführten Ideen werden heute von außen an die Pflege herangetragen.
Die Pflege muss die Chance ergreifen, aus sich heraus die Digitalisierung zur Verbesserung der eigenen Arbeit strategisch zu instrumentalisieren. Dazu sind die folgenden Schritte zu gehen:
Zunächst müssen pflegerische Führungskräfte
und Mitarbeiter den Blick auf die Digitalisierung komplett verändern und diese eben als (einmalige) Chance und nicht mehr als Risiko verstehen. Dann sollten innerhalb der Berufsgruppe Mitarbeiter mit digitaler Kompetenz identifiziert und zu Teams zusammengeschlossen werden. Aufgabe dieser Digital-Teams ist es, für die Herausforderungen der eigenen Einrichtung digitale Lösungen am Markt aktiv zu suchen, zu testen und in Form von Projekten – wie z. B. Projekt 1 „digitale Vitalzeichenkontrolle“, Projekt 2 „digitale Pflegeschulungen“ – auf den Weg zu bringen. Aus den Digital-Teams sollten Konzepte für weitere digitale Anwendungen in der Pflege erarbeitet und mit den Herstellern entsprechender Lösungen anschließend realisiert werden. Die Digital-Teams der unterschiedlichsten Einrichtungen könnten sich untereinander vernetzen und durch die gegenseitige Übernahme erfolgreicher Projekte den Digitalisierungsprozess beschleunigen. Die Pflegemanager haben die Aufgabe, ihren Digital-Teams genügend Freiräume zu verschaffen, die Digitalisierung in ihrer Einrichtung in Form einer Digitalisierungsstrategie (Masterplan) zu strukturieren und durch massive Qualifizierungsmaßnahmen die digitalen Kompetenzen in der Fläche der Belegschaft deutlich zu verbessern.
Mit diesen Schritten kann es gelingen, die Vision der digitalen Pflege und damit verbunden den Wunsch vieler Pflegekräfte, wieder mehr Zeit für den Patienten zu haben, zu verwirklichen. ◆
TEXT: NICO KASPER, DR. CHRISTIAN BAMBERG
BILD: Pixaby