MUTTER IST DANN MAL WEG

Pflege

 Das Haus liegt im Sonnenschein, das Gartentor ist nur angelehnt und ich betrete wie immer das Grundstück meines Elternhauses über den gewundenen Weg, der von Blumen eingegrenzt wird. Mein Blick bleibt an den Kieselsteinen hängen, die wir als Kinder gesammelt haben und die noch immer die Beete säumen. Vögel zwitschern in den Büschen und alles scheint wie immer. Dennoch ist alles anders als noch vor zwei Wochen. Meine Mutter (im Mai wird sie 76 Jahre) ist nicht mehr hier. Nein, sie ist nicht im Krankenhaus oder vielleicht sogar gestorben, sondern sie hat sich einen neuen, wie sie selbst sagt Lebensmittelpunkt gewählt Mutter ist aus eigener Motivation in eine Einrichtung für betreutes Wohnen gezogen. Sie können verstehen, dass meine Familie und ich vor einem Rätsel standen. Okay, unser Vater ist schon seit vier Jahren gestorben und Mutter hatte diese schwere Phase nach unserer Einschätzung gut überstanden. Wir haben geholfen, wo wir nur konnten. Mein Bruder mit Familie, mein Mann und alle Enkel habe die alte Dame öfter besucht, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie weiterhin im Mittelpunkt steht. Angebote, für sie zu kochen oder sonstige Einkäufe zu erledigen, man denke nur an die schweren Einkaufstüten, hat sie immer abgelehnt. Nach ihren Worten sei sie zwar alt, etwas schwach aber nicht unselbstständig und auf Hilfe von uns angewiesen. Damit trösteten wir uns, sicherlich auch aus Bequemlichkeit, denn schließlich hatte jeder von uns seine eigene Familie, den eigenen Beruf und die eigenen Probleme zu lösen. Mutter lief deshalb, wenn man es im Nachhinein betrachtet, einfach so mit. Letzte Weihnachten versuchte mein Mann sie zu überzeugen, dass ein Hund oder eine Katze geeignet wären, der Langeweile entgegenzuwirken, sie wollte jedoch keine Verantwortung für ein Tier mehr übernehmen und der Vorschlag, zu ihr in das große Haus zu ziehen wurde von ihr abschlägig beschieden mit einem sehr konkreten Hinweis auf ihr Ruhebedürfnis und den zu erwarteten Lärm unserer Teenager.

Sicherlich haben wir uns als Familie schon so unsere Gedanken gemacht, was wäre, wenn Mutter einmal nicht mehr für sich sorgen könnte, ob man dann die Einliegerwohnung so herrichten könnte, dass eine Pflegekraft dort wohnen könnte und die Betreuung übernehmen würde. In unserer Nachbarschaft ist dieses Modell schon des Öfteren mit Erfolg praktiziert worden, jedoch blieb es in unserem Fall bei den Gedankenspielen. Broschüren von ambulanten Pflegediensten, die vom morgendlichen Weckdienst über das Mittagessen, den Einkaufsdienst und einen nächtlichen Notdienst unsere Mutter versorgen wollten, landeten regelmäßig im Müll. Mutter meinte immer, die kämen ihr nicht ins Haus, man wüsste nie, wen man sich da reinholen würde.

Warum und wann sich Mutter dermaßen, man könnte es augenzwinkernd nennen „radikalisierte“ ist uns völlig entgangen. So muss es gewesen sein, als wir Kinder mit neuen Lebensabschnittspartnern auf der Matte des elterlichen Hauses standen, als die Enkel plötzlich immer zahlreicher wurden, meine erste Ehe geschieden wurde und Neffe Thomas meinte, sein Traumpartner wäre Daniel. Keiner hat etwas gemerkt, obwohl wir immer dachten, dass über das Gespräch und den verständnisvollen Umgang miteinander solche Themen kommuniziert werden würden. Falsch gedacht. Und das uns. Und dann kam auch noch das schlechte Gewissen. Wie konnte es auch anders sein in einer Gesellschaft, die es immer noch als das höchste Gut ansieht, wenn man sich selbst um die Angehörigen kümmert und sie nicht in ein „Heim abschiebt“. Abschiebung ist in der derzeitigen politischen Weltlage dermaßen negativ besetzt, dass man sich sofort als Menschenfeind fühlt, wenn man an die damit verbundenen Unmenschlichkeiten denkt.

Wenn man ehrlich ist, geistern bei fast jedem noch die romantischen Bilder im Kopf herum in denen die alten Angehörigen brav auf einem Stuhl sitzen, nicht wesentlich anspruchsvoll sind, aber immer noch eine Bereicherung der Familie indem sie sich um die Enkel kümmern, kostbare Erinnerungen preisgeben oder Erbsen puhlen. Und selbst wenn man von der Realität der privaten Pflege ausgeht, die in vielen Familien eine wirkliche Belastung für die Gesundheit (meistens der Töchter/Schwiegertöchter) bedeutet, bleibt dieses schlechte Gewissen. Schon allein diesen letzten Satz zu schreiben ohne auf die Belange des zu Pflegenden einzugehen lässt mich in unserer Gesellschaft als einen Egoisten erscheinen. 

So, jetzt stand ich also da mit meinem schlechten Gewissen und mit – ich traue es mich kaum zuzugeben – einem unendlichen Gefühl der Erleichterung. Dieses kam primär nicht aus dem Umstand, dass meine Mutter nun in einem Heim war, sondern aus der Einsicht heraus, dass sie es selbst so entschieden hatte. Was für ein schönes Gefühl. Ich war nicht in die Situation gebracht worden, dass ich über den Kopf meiner Mutter hinweg entscheiden musste, wie sie ihr Leben weiter gestalten soll. Meine Mutter war immer ein schwieriger Mensch, dem das Durchsetzen des eigenen Willens ein Hauptanliegen war. Und nun hatte sie dies in einer beachtenswerten Konsequenz fortgesetzt.

Natürlich kann es auch anders laufen. Gerade hatte ich im Freundeskreis folgende Situation erlebt: Der Vater war nach dem Tod der Mutter alleine im ehelichen Haus geblieben und hatte sich in der letzten Zeit mehr schlecht als recht alleine versorgt. In ein Heim wollte er auf gar keinen Fall und auch professionelle ambulante Pflegeleistungen lehnte er ab. So kam es wie es in vielen Fällen kommt: Die Tochter fand ihn eines Tages hilflos in seiner Wohnung liegend vor. Im Krankenhaus, in das er zunächst verbracht wurde, sagte man der Tochter, dass der Vater gesund sei und nach Abschluss von drei Tagen wieder nach Hause geschickt werden würde. Allerdings konnte der durch den Sturz geschwächte alte Herr zu diesem Zeitpunkt weder alleine laufen, noch essen, kaum trinken. Meine Bekannte war verzweifelt, das Entlassmanagement des Krankenhauses hatte keine Lösung für einen Senior, der sich alleine in seinen vier Wänden befindet würde, aber sich nicht autark versorgen kann. In tagelangen Kämpfen mit dem Krankenhaus erreichte die Tochter schließlich, dass der Vater in eine Rehaklinik verlegt wurde. Diese Möglichkeit war zunächst mit dem Hinweis auf die Kosten, welche dem Krankenhaus bis zu einer möglichen Verlegung entstehen würden, verneint worden und nur nach massiven, u.a. juristischen Hinweisen auf die Gefahren, denen der hilflose alte Herr in den eigenen vier Wänden ausgesetzt sein würde, revidiert worden.

In der Rehaklinik konnte sich der Vater erholen und meine Bekannte hatte Zeit alles für seine nun auch mögliche Rückkehr in die Wohnung zu regeln. Irgendwie ist diese Geschichte also noch gut ausgegangen. Aber ich habe mitbekommen in was für einer schrecklichen Situation sie sich befand. Und im Nachhinein sagte sie zu mir, dass das Schlimmste für sie nicht die Tatsache war, dass sie sich um ihren Vater kümmern sollte, sondern statt seiner so schnell unter Zeitdruck entscheiden musste.

Und aus diesem Grund bin ich dankbar dafür, dass mich meine Mutter nicht in so eine Situation gebracht hat. Nun hatte ich das Glück einer Mutter, die das Ganze selbst in die Hand genommen und sogar über meinen Kopf hinweg entschieden hat. Recht hatte sie, schließlich ist es ihr Leben und sie soll darüber bestimmen, wie es weitergeht. Aber nicht jeder hat dieses Glück einen dermaßen motivierten älteren Angehörigen in der Familie zu haben.

Viele werden von der plötzlichen Situation überrascht und handeln dann vielleicht falsch oder nicht im Interesse des Angehörigen. Zu schambehaftet ist noch das Thema, was denn passieren soll wenn der alte Mensch, die geliebte Mutter, der geliebte Vater unterstützungsbedürftig wird. Es wird heute in vielen Fällen zwar eine Vorsorgevollmacht oder eine Betreuungsvollmacht ausgefüllt. Wirklich geredet über das Thema Pflege wird aber nicht. Ganz zu schweigen von der Scheu der Kinder, Ihren Eltern vorzuschlagen, sich einmal ganz konkret mit dem Thema zu befassen und darüber nachzudenken, wie ihre ganz persönliche Pflege aussehen könnte. Dabei sind solche Gespräche wichtig. Und das nicht nur, um die Angehörigen zu entlasten, sondern auch um sicherzustellen, dass die Belange und Wünsche der älteren Generation berücksichtigt werden können. Der demografische Wandel setzt dieses Thema zwangsläufig auf unsere Agenda, Augen zu und durch ist nicht mehr angesagt.

Es ist an der Zeit, hier eine positive Änderung zu bewirken. Und meine Mutter ist hierfür ein mutiges Beispiel. Und ich bin ihr dankbar dafür. Sie ist zwar jetzt weg, aber aus eigenem Antrieb und nach eigenem Entscheiden und wir können sie – wann immer wir wollen – besuchen.

Ich muss jetzt weiter, Mutter meinte, ich solle ihr einige Blumen aus dem Garten für die Standvase in ihrem neuen Zuhause mitbringen, aber bloß keine Rosen, die mochte sie schon immer nicht und die Tulpen sollte ich gefälligst auch stehen lassen, die wären so wichtig für die kleinen Bienen am Teich. Man bleibt irgendwie doch immer das Kind seiner Eltern. 

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